Was ist Unabhängigkeit?


Heute fragt mich eine Freundin: ‚Was ist Unabhängigkeit?’ Rennt mit ihrer Frage offne Türen ein.

In den letzten zwanzig Jahren habe ich mich das wohl Hunderte Male fragen dürfen: Einmal ging es um Revolte wider erlebte häusliche Tyrannei, nahezu vollständige Beschneidung in den essentiellen Lebens- und Wachstumsbedürfnissen eines jungen Menschen. Dann war der endlich erreichte Eintritt ins Hochschulstudentenleben gleichzusetzen mit Freiheit. -
Von dort mußte ich bald vor unflexiblen und höchst dogmatischen Lehransichten und -maßnahmen fliehen. Die Flucht war aber auch ein Ausdruck der Freiheit. Die Wahl für einen Lebensort fern des Elfenbeinturmes Universität, mit Herausforderungen ganz anderer, wirklichkeitsnaher Art. -
Nach wenigen Jahren Betäubung meiner Lebenslust fühlte ich den Stachel wieder, von dem die Dichter sprechen, nutzte die mir gegebene Freiheit zum Auswandern. Neubeginn, ganz von vorn: das Leben in einem Land, welches fremder kaum sein könnte und doch so viele Töne in mir zum harmonischen Zusammenklingen brachte. -
Die Fremdheit hat obsiegt, ich mußte wieder fort und habe mich, es ist mir noch präsent, in diesem nächsten Schritt sehr unfrei gefühlt. -
Dann die Wahl von der Freiheit einer Alleinlebenden zum ehelichen Gemeinsam. -
Die Entscheidung für die berufliche Selbständigkeit. -
Die nächste für die Innovation anstelle des mainstream. -
Im Alltag dasselbe: Ablehnung bestimmter Nahrungsmittel und Kleidungsstücke, gegen jeden Einwand, auch den von Nahestehenden. Verzicht macht frei.

Immer wieder, während all der Jahre und verschiedenen Lebensweisen, kommt der Gedanke, dieses Freisein von könne stets nur theoretisches Konzept bleiben, höchstens anzustrebendes Ideal, immer aber Utopie. Das Freisein für ist eher möglich und macht uns wohl zu dem, was wir sind: Mensch.

Vor sieben Monaten das entscheidende Erlebnis: Völliges Aufgelöstsein im Universum. Aufgegangen in das Große Eine. Fast so, als sei ich nicht mehr und zugleich mehr als je zuvor.
Ich erlebte, daß Sein nicht ist. Ich bin nicht Mensch, sondern habe die stoffliche, anatomische und charakterliche Beschaffenheit eines menschlichen Körpers angenommen. Nur wenn ich mich einlasse auf das ich-auflösende Verschmelzen mit allem, was mich umgibt, nur dann werde ich frei.

Nach dem Wiedereintauchen ins ich-bestimmte Leben erkläre ich mir Stück für Stück die Unfreiheiten meines Daseins. Freiheit war für mich stets die Fähigkeit zu erschaffen. Das hinterfrage ich nun. Freiheit in letzter Konsequenz ist und bleibt für den Menschen offensichtlich unmöglich: Wie hält er so stur am Irrglauben fest, das Universum sei mithilfe seines Verstandes erklär- und erfaßbar? Wäre es an dem, also das Universum und was wir Leben nennen auf faßliche Größen wie Begriffserklärungen zurückführbar, dann müßte der Mensch in der Lage sein, etwas der Natur Vergleichbares zu erschaffen. Gibt es je ein Beispiel in der Geschichte des Menschen, das belegt, daß dieser einen lebendigen Organismus „aus dem Nichts“ erschaffen hat?
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Und HIER halte ich verblüfft inne.
Wovon ich fortwährend spreche, woran ich denke ist Freiheit. Aber meine Freundin fragte nicht nach ihr, sondern nach der Unabhängigkeit. Wenn ich diese genauer betrachte, stelle ich mir einen Zustand vor, während dem ich auf niemandes Wohlwollen mir gegenüber angewiesen bin. Zugleich entziehe ich mich seiner Beeinflussung, bestimme mich selbst. Ich bin von Menschen wie Dingen losgelöst. Dasselbe trifft auch auf Freiheit zu. Warum also gibt es beide Worte?

Freiheit heißt, von Zwängen und Pflichten gelöst, von ihnen und ihresgleichen ent-bunden zu sein. Dasselbe gilt für Unabhängigkeit.
Frei zu sein bedeutet, nicht behindert oder beeinträchtigt zu werden, sei es nun von Menschen, Dingen, Situationen, Institutionen oder Komplexen. Auch das kann man über die Unabhängigkeit sagen.
Nach einer Weile beobachte ich, daß es einen leicht zu vergessenden, doch entscheidenden Unterschied gibt, wodurch die Freiheit sich wesentlich von Unabhängigkeit entfernt:
Freiheit ist ein Recht.

Damit ist Unabhängigkeit UND das Bewußtsein für dieselbe für den Menschen von entscheidender Bedeutung, entscheidender noch als Freiheit. Ein Mensch kann sich in Situationen oder gegenüber anderen, ja sogar sich selbst gegenüber als versklavt und damit als unfrei erkennen. Er muß deswegen noch lange nicht abhängig sein. Im Gegensatz dazu kann ihn Abhängigkeit mehr und mehr in die Unfreiheit ziehen. Ein interessantes Bild hierbei ist das Erleben eines Abhangs: Solange man nicht bewußt gegenwirkt, wird sich das Tempo nur immer vergrößern (Hangabtriebskraft!). Am Ende ist man kaum mehr in der Lage selbständig zu handeln und wird entgegen des eigenen Wollens doch unerbittlich fortgerissen, wird sich also als unfrei empfinden.
Abhängigkeit zieht Unfreiheit konsequenterweise nach sich. Wählt der Mensch jedoch die Unabhängigkeit und bleibt sich dieser Wahl bewußt, so wird sie ihm auch nicht verloren gehen, kann ihm von außen nicht entzogen werden.