Ein zweites Wunder


Immer wieder einmal überrascht mich meine Mutter mit guten Gaben für den Bauch. Leckereien, die, weil es sie in der damaligen Form nicht mehr oder nur äußerst schwer zu finden gibt, mich sofort an kulinarische Glücksmomente meiner Kindheit erinnern. Eine darunter ist echtes, „unverpanschtes“ Pflaumenmus. Bei ihr um die Ecke findet sie einen kleinen Laden, der solches wieder anbietet, aus 100% Frucht, ohne weitere Zusätze. Es findet sich dort auch Mus aus anderen Früchten: Kirsch, Aprikose, Quitte... Mein Favorit bleibt immer Pflaume! Meine Mutter schickt mir diese Kostbarkeiten, weil sie mir etwas Gutes tun möchte. Um die große Wirkung, die diese Sendungen auf mich ausüben, weiß sie nicht, höchstens daß sie etwas ahnt.

Nun hat sie mir vor einigen Wochen wieder einmal ein solches Paket gesandt, mit Quitten-, Aprikosen-, Kirschen- und Pflaumenmus. Ein kleines Vermögen steckte zwischen den vier Wänden des Paketkartons: Gutes hat seinen guten Preis!
Denselben Tag war ich bei meiner Freundin eingeladen, der ich gerne hin und wieder etwas kulinarisch Feines mitbringe. Für mich stand fest, das Mus wird weiterwandern, von meinen Händen in die ihrigen. Verzicht bringt Genuß, wenn man erlebt, daß das, was man „opferte“ bei dem anderen Freude erzeugt. Und so geschah es.

Heute, um Wochen später, habe ich das letzte der vier Gläser geöffnet: Kirschmus. Für einen Augenblick wünschte ich, es wäre Pflaume gewesen, dann kam schon die Erinnerung an meine Mutter und ihr gutes Tun und an mein Weitergeben dieser für mich so kostbaren Leckerei. Von Frohsinn erfüllt steckte ich den Löffel ins Glas, dann in den Mund. Wie war ich überrascht, als ich statt des Kirsch- einen Pflaumengeschmack ausmachte! Es war unverkennbar dasselbe Mus, welches ich so liebte. Das Glas, das Etikett, alles sagte Kirsche, der Inhalt aber strafte seine Oberfläche Lügen.

Jetzt sitze ich und tippe dieses Erlebnis in Worte, denke unterdessen wie leicht aus einer fehlerhaften Abfüllung ein Wunder werden kann.

Spieglein, Spieglein...


Vor noch nicht langer Zeit zog ich zu meinem Mann und damit in eine für mich gänzlich neue Umgebung. Die Stadt, der Schlag Menschen (mit ihm ihr Dialekt, ihre Weltanschauung und -weisheiten), die Straße und ganz konkret die Nachbarschaft, in der sich meine Heimstätte seitdem befindet, alles war unbekannt und un-„erfahren“. Mein Mann hatte diesen Schritt seinerzeit ebenfalls vollzogen, auch für ihn war dieses Haus in dieser Straße einmal ganz neu, von ihm unberührt und ihm unvertraut gewesen. Dies lag jedoch bereits um viele Jahre zurück.

Von Anbeginn hatte er sich unwillkommen und sogar abgelehnt gefühlt. Er hatte aus einem fremden Land, mit anderen Sitten und Gepflogenheiten, ja aus einem völlig anderen Lebensstil hierher gefunden. Vieles, was ihm lieb und teuer gewesen, hatte er zurücklassen, auch in sehr privaten Bereichen große Zugeständnisse machen müssen. So waren seine Erwartungen, Empfindungen und ersten Erlebnisse im neuen Lebensabschnitt äußerst gemischt. Er projizierte dieses Gefühl, natürlich unbewußt, auf seine Umgebung. In konsequenter Folge begegneten ihm so ein Mangel an Willkommen, Wohlsein, auf ihn Eingehen, sowie Vorurteile und mitunter sogar abwertende Kritik. Gipfelpunkt der Projektion all seiner Befürchtungen, Unsicherheiten und Ängste war schließlich die Manifestation dieser in einen unmittelbar angrenzenden Nachbar, der wiederholt und wachsend vulgär, abweisend und sogar aggressiv auf meinen Mann und seine damalige Familie reagierte. Darüber hinaus hatte er offensichtlich ein großes Vergnügen darin gefunden, seine Nachbarn zu beobachten, und zwar sooft wie möglich: durch die Fenster, vom Balkon herunter in den Garten, vor der eigenen Garageneinfahrt; er schaute und stierte jede freie Minute.

Gleich zu Anfang wurde ich in die vorherrschenden Gegebenheiten eingeweiht und streng dazu angehalten, den entsprechenden Nachbarn in keiner Weise zu beachten. Meine freundliche Art, stets offen auf Menschen zuzugehen und die Absicht, mich bald in der Straße als neue Nachbarin vorzustellen, wurden mir für diese Familie, sowie für zwei, drei andere in etwas weiterer Entfernung lebende, untersagt. Mehr noch, sollte ich meinerseits angesprochen werden, wäre das einzige und beste Mittel, diese Kontaktversuche schlichtweg zu ignorieren.
Ich konnte weder, noch wollte ich diesen Ermahnungen nachkommen. In meinem Kopf hatte sich längst ein Ziel festgebissen: ‚Diese Schranken können und müssen geöffnet werden!’ Es sollte doch nicht so schwer sein, ganz im Sinne des Wie so mir, so ich Dir! die Fronten und Mißstimmung aufzulösen. Sieht der „böse“ Nachbar erst einmal, daß die nebenan wohnenden Menschen ganz liebenswert und freundlich (auch zu ihm) sind, wird er seine Haltung und Handlungsweise dem anpassen und alles findet zu Harmonie.
Wann immer es fortan zu zufälligen und unvermeidbaren Zusammentreffen mit jenem Herrn kam, grüßte ich höflich und lächelte einnehmend. Ich war mir gewiß, so das Eis binnen kurzer Zeit brechen zu können.

Meine Bemühungen blieben vergeblich. Kein freundlicher Blick fand seinen Weg zu mir, im Gegenteil übertrug der Nachbar seine aggressive Verhaltensweise auch auf mich, die ich ja völlig unbedarft und von der Vorgeschichte mit meinem Mann unberührt in sein Leben getreten war. Für ihn gab es offenbar keinen Unterschied zwischen uns beiden, ganz gleich, ob sich unsere Handlungen deckten oder nicht. Es gipfelte sogar darin, daß ich eines Tages durchs geschlossene Fenster angebrüllt und auf äußerst vulgäre Weise von ihm beschimpft wurde.
Erklären konnte ich mir das freilich nicht und fing bereits zu glauben an, daß mein Mann mit seiner Einstellung „Die Menschen sind schlecht!“ in diesem Fall vielleicht nicht Unrecht hatte. Seit diesem Erlebnis änderte ich also mein Verhalten und paßte es dem meines Mannes an: ignorieren und versuchen, Begegnungen zu vermeiden.
Glücklich hat es mich nicht gemacht, ich konnte mich mit dieser Lösung nicht zufrieden geben: Es gärte fort in mir, ich wollte die Situation verstehen! Allein, um den Fluß negativer Energien (von außen und von innen) zu unterbrechen, überlegte ich, worin ich gefehlt hatte, wie ich die Situation klären könnte.

Schließlich hatte ich eine Idee: Ich brachte an der Außenwand unseres Hauses einen Spiegel an, gegenüber des Balkons meines Nachbarn und genau auf seiner Augenhöhe. Wann immer er uns fortan beobachten wollte, er würde auch sich selbst begegnen. Mein Mann flehte, ich solle es rückgängig machen, es würde als Provokation verstanden werden. Ich setzte mich durch: 'Ein Spiegel allein ist neutral, provoziert nicht.'

Das Ergebnis war verblüffend: Die zuvor täglich erlebte Überwachung durch unseren Nachbarn hat sich schrittweise verringert, schließlich ganz geendet. Betrat er den Balkon, starrte er in andere Richtungen und vermied es, nach uns zu schauen. Streifte er dennoch einmal unser Haus, so war es nur für kurze Momente und nicht mehr störend. Das erste Mal seit meinem Einzug ins Haus meines Mannes fühlte ich mich im angrenzenden kleinen Garten wohl und nicht von Blicken verfolgt. Ich konnte die Fensterläden auf der Seite zum Nachbarhaus öffnen und schließen, ohne ein dunkel drein blickendes Augenpaar und vielleicht gehässige Verwünschungen befürchten zu müssen. Mehr noch: Wenn ich ihm fortan unvorhersehbar auf der Straße begegnete, so grüßte er beinahe freundlich. Ein vollständig verändertes Verhalten seinerseits! Die Entspannung, die mit diesem neuen Verhalten einherging, fiel mir so deutlich auf, daß ich erst dann gewahr wurde, wie angespannt mein Leben bis dato gewesen war.

Natürlich war ich zunächst verblüfft über diese rasche und so unerwartete Wendung der Gegebenheiten, wollte auch verstehen, was sie so plötzlich herbeigeführt hatte. Dann erkannte ich, daß meine so gezielt eingesetzte Freundlichkeit und das Bedürfnis, den bei meinem Einzug vorgefundenen Zustand unbedingt ändern zu wollen, mich in eine geistig-emotionale Lage versetzt hatte, die nicht weniger unfrei und vorurteilsbehaftet war als die meines Mannes. Durch die geballte Ladung an Freundlichkeit und Höflichkeit, an „gutem Willen“, die ich auf meinen Nachbarn abgefeuert hatte, hatte er stets auch die andere Seite mitempfunden, einerseits durch das weiterhin ablehnende und abweisende Verhalten meines Mannes, andererseits durch die Bewußtheit, selbst nicht für dieses Wohlwollen verantwortlich zu sein. Denn er hatte ja nichts getan, um es „zu verdienen“. Wahrscheinlich hatte er sich sogar betrogen gefühlt, in die Irre geführt. In meinem Wunsch, das Beste zu tun, hatte ich unbewußt das Zeichen gegeben: ‚Du bist in Wahrheit nicht, was zählt; was für mich wichtig ist, ist mein gutes Gefühl.’

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© Heloïse Ph. Palmer

Ein Wunder!


Immer wieder bringt mir mein Mann frische Blumen mit nachhause. Ich erfreue mich so sehr an ihnen, das weiß er auch. Es bleibt ein Leichtes, mich zur Freude zu reizen.

Einmal brachte er mir eine weiße Rose heim, die mir schon beim ersten Berühren ein seltsames Gefühl bescherte. Natürlich hatte ich es ignoriert und meinen Tag dort fortgesetzt, wo er durch die Geschenkübergabe unterbrochen worden war.

Am nächsten Morgen hing ihr Kopf zu Boden. Verblüffung und Enttäuschung, auch ein Gefühl der Trauer waren meine Antwort. Aufgeben wollte ich sie jedoch nicht: Über eine Woche wechselte ich täglich Wasser und sorgte für einen guten, lichtreichen Standort. Mehrmals am Tag suchte ich sie auf, hoffend, sie würde zu ihrer Kraft zurückgefunden haben. Über eine Woche keine Regung. Also kam es doch zum Entschluß: Sie wird entsorgt.
Denselben Morgen, da dieser Gedanke entsandt worden war, traf ich sie standhaft an und erhobenen Hauptes ihr „Willkommen in einen neuen Tag“ ausstrahlen.

Die weiße Rose blieb mir für weitere zwei Wochen erhalten. Als sie schließlich ihr Lebewohl ankündigte, stellte ich den Stiel ins Wasser, suchte sie wurzeln zu lassen.
Mittlerweile steht sie in unserem Garten und trug bereits mehrfach neue Blüten aus.

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© Heloïse Ph. Palmer