Eine Brücke aus Tönen


‚Was ist Musik?’, fragt mich der estnische Komponist. ‚Ich bin nun über 70, habe mich mein Leben lang mit Musik beschäftigt, sie geschrieben, sie aufgeführt, angehört, geträumt... Die Erkenntnis darüber, was sie ist, wurde mir niemals zuteil.’

‚Ich habe durchaus eine Erklärung’, antwortet mein junges unbescheidenes Ich. Verspricht ihm eine schriftliche Darlegung. Diese auszuformulieren hat mich einige Zeit gekostet, mir zugleich aber viel Freude bereitet. Derjenige, der den Anstoß dazu gab, lebt nun nicht mehr. Das hohe Gefühl während der Ausübung meiner Aufgabe bleibt indes auf ewig in mir bestehen.

Musik ist Philosophie, Psychologie, Soziologie und Spiritualität. Ferner Wissenschaft, Therapie, Heilung, auch Unterhaltung. Meine vollständige Auseinandersetzung mit dem Thema und die Erklärung darüber, wie sich alle hier aufgelisteten Bereiche in dieser so intimen und intuitiven Kunst wieder finden lassen, steht in Was ist Musik? .

Hier geht es um anderes, namentlich darum, wie ich durch die Musik zu
belebender Hingabe fand: Für eine/n freischaffende/n ausführende/n Musiker/in ist es von entscheidender Bedeutung, ein Stammpublikum aufzubauen. Zuhörer, die von den eigenen Fähigkeiten überzeugt sind und immer wieder begeistert ins nächste Konzert beinahe gezogen kommen. Glücklich all jene, die ihre Heimatstadt niemals verlassen haben und seit früher Kindheit in ihrer Region Anhänger und Veranstalter sammeln konnten! Für die anderen, die wie ich nach wenigen Jahren eine neue Stadt/ein neues Land bewohnen und in ihr/ihm die eigene Kunst kommunizieren möchten, für solche Menschen ist es schwerer, da wo sie gerade sind, Fuß zu fassen und beruflich erfolgreich zu sein. Sie beginnen wiederkehrend von vorn.

Potentielle Konzertgäste erreicht man häufig am ehesten, indem man sie persönlich einlädt und das musikalische Ereignis so zu einer Eins-Zu-Eins Begegnung macht. Durch die persönliche Einladung, werden sie sich auch im Augenblick des Konzertes als persönlich angesprochen erleben.
Ich habe mein Stammpublikum weitestgehend auf diese Art zusammengebracht. Egal, wohin ich ging oder fuhr, wann immer es zum persönlichen Gespräch mit einer mir und mit mir unbekannten Person kam, lud ich diese herzlich dazu ein, ein kommendes Konzert von mir zu besuchen und mitzuerleben. Das waren zumeist Menschen, die eher keinen oder nur geringen Wunsch verspürten, sich Aufführungen klassischer Musik auszusetzen, solch „elitären Ereignissen“ beizuwohnen.

Nicht selten, eher überwiegend, kam es durch die Begegnung im Konzertsaal zu einem bemerkenswerten Effekt: Der persönliche Kontakt, der in der Einladung mündete, bereichert um das eigene Erlebnis der Musikwahrnehmung führte dazu, daß sich die entsprechende Person nach dem Konzert vertrauensvoll an mich wandte. Die erlebte Geste des „Willkommen in meiner Welt“ UND die (mitunter nur unbewußt) erfahrene Wahrnehmung, daß die Künstlerin auf der Bühne wirklich zuzuhören vermag, erweckte im Besucher Vertrauen in diese ihm unbekannte Person, ermöglichte es ihm, sich derselben offenen Herzens mitzuteilen. Ich habe das unterstützt, indem ich mir im Anschluß an meine Konzerte stets Zeit für die Besucher und ihre Mitteilungen nahm, ja diese regelrecht dazu aufforderte, sich mit mir über ihr Empfinden auszutauschen.

So kam es nach und nach dazu, daß immer mehr Menschen meine Konzerte besuchten, weil sie wußten, daß sie sich anschließend aussprechen konnten. Meine bereits beim ersten Aufeinandertreffen kommunizierte Fähigkeit, auf sie einzugehen und sie wirklich anzuhören, muß zu dem immer stärker werden Bedürfnis geführt haben, dies auch anzunehmen und zu nutzen.

Andere Konzertbesucher fanden zu demselben Verhalten, jedoch auf anderem Wege: Meine Konzertprogramme gestalte ich seit Jahren in der Weise, daß Musik im Rahmen eines Kontexts präsentiert wird, der allgemeine und von jedem Menschen nachvollziehbare Themen spiegelt. So erlebt der Zuhörer zwar mitunter fremde, vielleicht auch ungewünschte Klänge, dies aber immer in einem Zusammenhang, mit dem er sich identifizieren kann. (Ich nenne ein so gestaltetes Konzert
muïetisch, s. www.muiesis.com)

Die Wahl solcher Themen signalisiert dem Zuhörer eine eindeutig kommunizierte Offenheit meiner, mit ihm in persönlichen Dialog zu treten. Und zwar nicht wissenschaftlich, etwa über die Kunstwerke, sondern emotional oder auch spirituell, nämlich über das, was mit uns (meinem Gegenüber und mir) in der vorgestellten und behandelten Situation geschieht. Indem ich Themen anspreche, mit denen er aus seinem persönlichen und mitunter täglichen Leben vertraut ist, ermögliche ich die persönliche Begegnung, zu der es auch regelmäßig kommt.

In beiden Fällen bemerke ich also ein großes Bedürfnis nach persönlichem Gespräch mit einem eigentlich unbekannten Menschen. Zudem kam recht schnell bei mir die Frage auf, wie wichtig am Ende das musikalische Erlebnis blieb und ob nicht vielmehr der hauptsächliche oder gar einzige Grund für den Konzertbesuch jener Menschen der war, nach dem musikalischen Teil in mir eine aufmerksame, verständnisvolle und freundlich gestimmte Zuhörerin zu finden.

Ein anderes Beispiel mit gleichem Resultat erlebte ich im Zusammenhang mit von mir angebotenen Klavierstunden. So kam es verschiedentlich dazu, daß mich erwachsene Menschen aufgesucht haben, vermeintlich um selbst musizieren zu lernen. Bald hat sich aber gezeigt, daß das, was sie eigentlich bei mir suchten, nicht das Wissen um die rechte Körperhaltung und musikalische Ausdruckskraft war, sondern sie kamen zu mir, um ihr Bedürfnis nach Aussprechen ihrer persönlichen Wünsche, Ängste und Irritationen zu stillen.
Was mich zunächst verblüffte, nahm ich schnell dankend an: Ich sah, ich konnte durch meine Fähigkeiten, verständnisvoll zuzuhören, vertrauensvoll und diskret zu sein, den betreffenden Menschen einen weitaus besseren Dienst erweisen als wenn ich ihnen die Grundlagen des Klavierspiels vermittelt hätte.

In zweierlei Situationen ist so die Musik stabile Brücke zum persönlichen-intimen Gespräch geworden. Eine dritte beschreibt mich selbst:
Die Fähigkeit, derartig aufmerksam zuzuhören, sowie der Wunsch mit demjenigen, der mir zuhört in enge Verbindung, also erfolgreiche verbale Kommunikation zu treten, ist durch meine jahrelange Arbeit mit Musik, bei der das Hören essentiell und entscheidend bleibt (!), in mir gewachsen. Ich war als Bühnenkünstlerin niemals daran interessiert, mich selbst darzustellen und das Publikum „gerade eben so als Beiwerk“ hinzunehmen. Indes ging es mir seit jeher stets darum, etwas zu vermitteln, das jenseits des Klanges einer erarbeiteten Komposition liegt. Etwas, wofür der Klang höchstens als Schlüssel fungieren kann, um andere Dimensionen aufzuschließen.
Vermutlich ist mir das gelungen. Ein Zeichen, das diese Vermutung bestätigt, könnte sein, daß sich mir vollkommen fremde Menschen bis in tiefe intime Bereiche ihres Lebens geöffnet, ihre Nöte, Sorgen und Hoffnungen mit mir geteilt haben.

Eine bemerkenswerte Beobachtung ist, daß das Zustandekommen eines solchen Gesprächs übrigens gänzlich unabhängig von Alter, Geschlecht oder beruflicher Stellung des/r Suchenden ist. Vorurteile wie „junges Alter = kein Verständnis“ oder „Künstler entspricht Realitätsferne“ lösen sich in Angesicht einer wahrhaft persönlichen Begegnung auf.

---