Endlich


Ich habe endlich meinen Lehrer gefunden.
Seit Jahren suche ich nach ihm, nach weisenden, stützenden, ermutigenden Anregungen. Hunderte Bücher habe ich verschlungen. (Keine Übertreibung: Ich lese schnell und täglich.) Hundertfach vermeintlich gewusst, ich hätte ihn nun griffbereit. Antike Philosophie, Fernöstliche Versenkung, europäische Religiosität, oder Andenschamanismus: immer nur die nächste Sackgasse.

Immer wieder folge ich, anstatt mich auf den eigenen Weg zu konzentrieren, beherzt voranzuschreiten, meinem Zweifel. Dann bleibe ich stehen, denn Zweifel sind Bremsen, Stagnation. Nicht der Zweifel bringt uns schließlich weiter, sondern stets nur das, was aus ihm erwächst. Stillstand ist etwas zutiefst unnatürliches und auch nur theoretisch vorstellbar. Faktisch, in der Wirklichkeit
, gibt es ihn nicht. Alles ist immer in Bewegung.

Diese Umwege gehören zu meinem Wachsen wie der Weg, den ich unabgelenkt verfolgen sollte. Sie bleiben Teil von mir, sind wichtig. Aber ich lehne auch diese ihre Wichtigkeit ab, stelle sie immer wieder in Frage.
Nun stecke ich doppelt fest.
Hinzu kommt die Wut, die mir eigentlich die Kraft zum Ausbrechen anbietet. Aber soweit bin ich heute noch nicht.

Dann finde ich Sie und bin befreit vom Suchen.
Alles, was ich vor Sie
bringe, endet in Einem. Alles, womit ich hadere, das Hadern selbst, beleuchtet eine einzige Wahrheit. Es gibt nur eine Weisheit. Meine Geschichte, meinen Weg, vor allem meine Fragen, richte ich an Sie. Und empfange diese eine Antwort: Du fürchtest den Fehler, also fürchtest Du Deine Entwicklung.

Nichts weiter und seitdem nur Schweigen. Jeder Versuch des Wiedertreffens blieb vergeblich. Als erstes stellten sich Wut und Unverständnis ein. Dann wieder meine so vertrauten Zweifel. Nur dieses Mal wuchs ich über sie hinaus: Ich lernte, aus dem Schweigen zu hören, dass ich nur der endlich klaren einen
Wahrheit folgen müsse, um dort anzukommen, wohin ich mich sehne. Also begegne ich meinem Zweifel mit Neugier und finde Verblüffendes heraus:

Gibt es sie wirklich: Richtig
und Falsch?
Falsch ist, was vom Richtigen abweicht, eine Unrichtigkeit
. Der Sprachgebrauch zeigt, dass wir schon an dieser Stelle werten: Un-Richtigkeit ist nicht erwünscht, sagt die das Richtige entstellende Vorsilbe. Wären nun richtig und falsch gleichwertig, also neutral und entsprechend anzunehmen, so müsste man auch von Unfalschheit sprechen. Die aber gibt es nicht. Wer würde etwas Richtiges nur in der Negation des Falschen, nicht Gewollten ausdrücken?
Falsch ist also ungewollt, eine schlechte
Eigenschaft. Fehler sind falsche Handlungen, falsche Ergebnisse und Entwicklungen. Die Nichterfüllung einer erwarteten Anforderung. Ist, wenn es doch zur Erfüllung kommt, nun eine unfalsche Entwicklung eingetreten? Fair wäre es ja. Fair im Sinne eines gleichberechtigten Gebrauchs der zwei Konzepte. Dann wäre ein Fehler auch nicht länger Mangel oder eine schlechte Eigenschaft. Dann wäre ein Fehler wieder oder erstmals Schlüssel zu neuen Räumen. Fehler wäre gleich Möglichkeit.

So verstehe ich die
Weisheit endlich: Das alleinige, aber virulente Ver-Sagen heißt, mich von meinen Fehlern lähmen zu lassen. Sobald ich sie jedoch annehme, sie nicht nur begrüße, sondern auch bereit bin, sie zu integrieren und von ihren Stigmata Schaden, Versagen, Defekt befreit zu erleben, dann werde ich wirklich wachsen können.

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© Heloïse Ph. Palmer